Die gute alte Zeit

14 Januar 2011 Text: Matthias Häger
Foto: cliff1066™ / flickr.com unter CC-Lizenz

Freitag, 19:45: Ich sitze daheim in meinem Wohnzimmer, in fünfzehn Minuten spielt mein Team auswärts und ich will wissen, wie es früher war. Als es noch keine Live-Ticker, SMS-Dienste oder Live-Radios gab. Kein sekundengenaues Mitfiebern bei Pointstreak, nicht mehr daheim schon besser informiert sein, als die Zuschauer im Stadion. Ich will warten, ich will mich bis zur Tageszeitung gedulden, ich will das Gefühl für mich beantworten, ob ich wirklich alles sofort wissen muss.

Freitag, 20:00: Meine Google-Startseite im Laptop hat ein Pointstreak-Plug-In, ich sehe, dass das Spiel losgeht und muss mich zwingen, die Seite zu schließen. Facebook und ICQ gehören auch zu, nicht, dass mir da noch jemand etwas schreibt. Und die Webseite und das Forums meines Vereins kann ich auch nicht besuchen. Zur Sicherheit klappe ich den Rechner zu und verstecke ihn in der hintersten Ecke des Kleiderschranks. Zur Entspannung beschließe ich eine frühe Folge von Derrick auf DVD, Verzeihung, auf VHS-Videokassette anzugucken.

Freitag, 20:30: Derrick ist eine Katastrophe, das Band rauscht, der Ton verzerrt und die Handlung überschaubar. Mein Handy piepst. SMS vom besten Kumpel: “Geiles 1. Drittel, wir…”, ich reiße mich am Riemen und vergrabe das Handy ganz tief unter den Sofakissen. Nein, ich will keine Information. Es kribbelt so langsam.

Freitag, 21:30: Derrick wurde nicht besser, kurz vor Ende ist das Band gerissen. Nervös laufe ich auf und ab und warte auf das Testbild. Ich beschließe mit etwas Musik zu entspannen. Also schnell das MP3-Radio angestellt, sorry, meine natürlich das Schellack-Grammophon und ein paar Stücke der Comedian Harmonist umschmiegen meine Ohren.

Freitag, 22:30: Die Musik nervt, das Grammophon kratzt und die Nachbarn haben sich auch schon beschwert. Aggressiv weise ich sie an der Tür zurück, ich würde ja schon gerne wissen, was mein Verein gemacht hat. Wer hat die Tore geschossen, haben wir den Lokalrivalen in der Tabelle distanziert? Doch ich reiße mich zusammen, unterdrücke das Verlangen, mal kurz den Laptop zu benutzen.

Freitag, 23:30: Ich halte es nicht mehr aus, trinke zwei Asbach Uralt und beschließe ins Bett zu gehen. Mein Telefon klingelt, es sind die Freunde aus dem Fanclub, die sich grölend aus dem Fanbus melden. Ich bin genervt, erwidere “Falsch verbunden”, stöpsel das Telefon aus der Dose und krieche unter meine Bettdecke. Ich schlafe schlecht, träume unruhig, wälze mich hin und her.

Samstag

Samstag, 5:30: Im Schlafanzug stehe ich an der Tür, der Zeitungsbote ist meiner. Wo bleibt der Junge denn? Ungeduldig tippe ich von einem Fuß auf den anderen, da biegt er endlich um die Ecke. Ich reiße ihm die Zeitung förmlich aus der Hand, blicke auf den Sportteil und lese: “Die Eishockeyspiele waren leider bei Redaktionsschluß noch nicht beendet.” Schreiend könnte ich zum Mörder werden. Der Tag ist gelaufen.

Samstag, 15:00: Frustriert verbringe ich den Tag mit Chips und Cola im Bett und frage mich, welchen Sinn mein Leben noch hat, wenn man nichts erfährt. Gegen Nachmittag raffe ich mich endlich auf und gehe in meine Stammkneipe zum Bundesliga gucken. Leider keine Eishockeyfans da. Ich frage ein paar Kumpels nach gestern, keiner weiß wie sie gespielt haben. “Bestimmt wieder verloren” meint jemand mit einem Grinsen, ich bin kurz davor mein Bierglas zu werfen. Fußball macht keinen Spaß, ich will etwas von meinem Team wissen.

Samstag, 18:30: Angetrunken gehe ich nach Hause, immer noch am Boden zerstört, zerfressen und gequält von der Ungewissheit. Zufällig treffe ich am Marktplatz einen alten Bekannten. Ich schmeiße mich ihm an den Hals, frage nach dem Ergebnis vom Eishockey. Er murmelt irgendwas von: “das war doch gestern, ich weiß nicht mehr, glaube irgendwie 5:3 oder so. Aber keine Ahnung mehr für wen.” Michael Douglas in Falling Down wäre gegen mich ein Heiliger.

Samstag, 21:00: Meine Mutter ruft an: “Na mein Junge, wie war es gestern beim Eishockey?” Ich antworte, dass ich nicht war und ihre Aussage: “Das ist aber schade, dein Bruder hat so von dem Spiel geschwärmt.” hilft mir nicht weiter. Denn das Ergebnis weiß sie auch nicht. Ich betrinke mich.

Sonntag

Sonntag, 09:00: Verkatert wache ich auf. Zeitung gibts heute auch nicht. Konterbier.

Sonntag, 13:00: Viertes Konterbier.

Sonntag, 16:30: Ich mache mich auf den Weg ins Stadion zum Heimspiel. Meine Kollegen von der Stehtribüne fachsimpeln über das Spiel vom Freitag, nur das Ergebnis sprechen sie nicht aus. Mir wird es zu bunt, ich schreie sie an: “WIE HABEN WIR FREITAG GESPIELT?”. Fünf Münder erstarren, 10 Augen blicken mich weit aufgerissen an: “Wie, das weißt Du nicht? Wir haben 7:1 gewonnen.”

Ich bin erleichtert, will so etwas aber nie mehr erleben und frage mich ernsthaft, wie die Leute das früher ausgehalten haben.


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